Wofür schlägt mein Herz?
Von Renate Haller
Einen Blick auf sich selbst werfen, um Orientierung zu finden
Das eine Thema fesselt, das andere langweilt. Wie finde ich heraus, wo genau meine Interessen liegen, welche Anforderungen zu mir passen? Beruflich und privat. Zwei Expertinnen geben Auskunft.
Laura war zehn Jahre alt, als sie ihren Eltern verkündete, sie werde Tierärztin. Der Berufswunsch blieb und Laura setzte ihn um. Viele Menschen kennen so eine kleine fiktive Laura. Menschen, die sehr früh wissen, mit welchem Thema sie sich beschäftigen möchten und das dann auch tun. Manche eine Zeit lang, andere ihr ganzes Leben. Und es gibt diejenigen, die sich ständig neu erfinden, weil sie immer spüren, dass sie nicht angekommen sind. Sie wollen etwas mit den Händen machen und werden Schreiner, dann rücken Menschen in ihren Fokus und sie werden Sozialarbeiter, mal fahren sie Taxi, mal versuchen sie sich in der Landwirtschaft. Das wäre in Ordnung, wären sie zufrieden mit ihrer Arbeit und ihrem Leben. Aber viele sind das nicht. Sie sind auf der Suche und wissen nicht, in welche Richtung sie sich orientieren sollen.
Gibt es überhaupt für jeden eine Richtung, ein Herzensthema?
„Ja“, sagt Tanja Bergelt, Leiterin der Fachstelle Personalberatung im Institut für Personalberatung, Organisationsentwicklung und Supervision (IPOS) in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Mitunter, fügt sie hinzu „gibt es sogar mehrere“. Schließlich verändert sich im Laufe der Jahre das persönliche Umfeld und die Gesellschaft, was auch die eigene Entwicklung beeinflusst.
Die Pfarrerin, Supervisorin und Organisationsberaterin ist überzeugt, dass auch jeder und jede das Herzensthema finden kann. Dazu allerdings „muss man einen Blick auf sich selbst werfen“.
Eine der Aufgabe von Tanja Bergelt im IPOS ist die Laufbahnberatung. Die können alle in Anspruch nehmen, die für die EKHN arbeiten, egal ob Küster oder Dekanin, Erzieher oder IT-Spezialistin. Einmal hatte sie in der Beratung eine Verwaltungsfachkraft, die sich schließlich umorientierte und nach einer Weiterbildung einen sozialen Beruf ergriff. Möglich sei als Ergebnis einer Beratung allerdings auch die Entscheidung, im bisherigen Job zu bleiben. Dann aber zu wissen, warum man tut, was man tut und gegebenenfalls auch, was im Job stört und wie man etwas ändern kann.
„Wo passe ich hin?“
Bei der Wahl des Berufes oder eines beruflichen Wechsels wirken viele Faktoren wie etwa Bedürfnisse und Interessen, Werte und Haltungen. Auch Umstände wie die Familie, das benötigte Geld oder die aktuelle Lebenssituation beeinflussen, wofür oder wogegen sich jemand entscheidet. „Ich möchte Menschen bestärken, ihren Berufsweg aktiv zu gestalten und herauszufinden, wofür ihr Herz schlägt“, sagt Bergelt.
Ein großer Beitrag auf dem Weg zu diesem Ziel ist die Selbstreflexion. Was sind meine Stärken und Schwächen, was interessiert mich, was liegt mir, was kann ich gut? Und was brauche ich, um sinnerfüllt arbeiten zu können?“, fügt die Theologin hinzu. Aus diesem gemeinsam gefundenem Wissen heraus könne man Ziele entwickeln, um dann zu schauen: „Wo passe ich hin?“
Wenn Aufgabe und Person zusammenpassen, gibt es eine hohe berufliche Zufriedenheit. Das gilt auch für die Kombination von Umfeld und Person. Denn es kann auch sein, dass jemand seine Arbeit als nicht so toll bewertet, das Miteinander mit den Kollegen und Kolleginnen aber als so wertvoll, dass bei den eigentlichen Aufgaben persönliche Abstriche möglich sind.
„Wir können erfüllt arbeiten, auch wenn nicht jede Tätigkeit Spaß macht“
„Manchmal“, sagt Tanja Bergelt, „gibt es auch einen überhöhten Anspruch, zufrieden arbeiten zu können.“ Das sei ähnlich wie die Suche nach dem perfekten Körper oder der perfekten Familie: Alles muss passen. Tut es in der Regel aber nicht. Zwischen dem Anspruch auf erfülltes Arbeiten im Traumberuf und der Realität gibt es eine gewisse Spannung, denn in den seltensten Fällen gefällt einer Pfarrerin, einer Pflegekraft oder einem Lehrer 100 Prozent dessen, was zu seinen oder ihren Aufgaben gehört. „Wir können erfüllt arbeiten, auch wenn nicht jede Tätigkeit Spaß macht“, betont die Laufbahnberaterin. Ein Verhältnis von 80 Prozent Arbeit mit Spaß und Erfüllung sowie 20 Prozent Arbeit, die auch ohne Freude einfach erledigt werden muss, hält sie für zumutbar. Wobei klar sei, dass die Werte individuell schwanken können. Was genau es ist, was jemanden stört und welchen Stellenwert das einnehme, gelte es deshalb in der Beratung herauszufinden.
Die Menschen, die zu Tanja Bergelt kommen, befinden sich in unterschiedlichen Lebenssituationen. Manche kommen nach einer Auszeit, etwa der Erziehungs- oder einer Studienzeit. Andere nach der Verbeamtung als Pfarrer mit der Frage: Auf was soll ich mich denn nun bewerben? Einige spüren einfach den Wunsch nach Veränderung oder suchen eine neue Herausforderung. Und wieder andere kommen kurz vor dem Ruhestand. „Wie gehe ich mit meinen Kräften um, wie kann ich langsam runterfahren, welche Ziele möchte ich noch umsetzen“, seien dann häufige Fragen, sagt die Supervisorin. Und schließlich wolle auch die nachberufliche Phase geplant sein. „In der Regel geht es um Übergänge“, fügt Bergelt hinzu.
Es gibt nicht den einen Sinn des Lebens, der als Ganzes gefunden werden könnte
Von „vielen möglichen Herzensthemen“ für jeden Menschen spricht Sabine Rettinger. stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse, dem Berufsverband der Logotherapeuten und –therapeutinnen in Deutschland. In einer logotherapeutischen Begleitung kann es um den Berufsweg gehen, aber auch umfassender um das eigene Leben, die Ziele, die Perspektiven. Rettinger zitiert den Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl. Er vertrat die Ansicht: Es gibt nicht den einen Sinn des Lebens, der als Ganzes gefunden werden könnte und dann seine Gültigkeit behielte, sondern den Sinn des jeweiligen Augenblicks. Im Rückblick füge sich die einzigartige Lebensgeschichte jedes Menschen zusammen.
Die Logotherapie ist zwischen Psychologie, Philosophie und Medizin angesiedelt und wird angewandt in Therapie, Beratung und Coaching und auch im Kontext von Bildung und Pflege. Frankl selbst sei Schüler von Sigmund Freud gewesen, habe aber die Ansicht vertreten, dass die von Freud entwickelte Psychoanalyse nicht das gesamte menschliche Verhalten erklären könne. Der Mensch sei mehr als Körper und Psyche, zu ihm gehöre auch eine spezifische menschliche Dimension, in der sich Phänomene wie Humor und Liebe finden, Glaube und Hoffnung sowie die jeweiligen individuellen Werte.
Grundlage der Logotherapie sei die Aussage, dass der Mensch immer handlungsfähig bleibt, egal, was ihm widerfahren ist. Dazu gehörten die Freiheit des Willens und die Verantwortung gleichermaßen: Wie antworten wir auf Fragen, die das Leben uns stellt?, fragt Rettinger. „Der Mensch ist nicht frei von etwas, sondern frei zu etwas.“ Frei, die eigene Antwort zu wählen auf die Fragen des Lebens. „Ich muss mir von mir selbst ja auch nicht alles gefallen lassen“, zitiert sie abermals Frankl.
Als Überlebender mehrerer Konzentrationslager blieb der Begründer der Logotherapie dieser augenzwinkernden Devise allen Widrigkeiten zum Trotz treu. Er stellte sich seiner Höhenangst durch Klettern und lernte fliegen. Und trotz des Verlusts seiner ermordeten Familie im Zweiten Weltkrieg verbitterte er nie. Er folgte den Dingen, die ihm am Herzen lagen.
„Wir versuchen, die Werte eines Menschen herauszukitzeln“
Aus Sicht der Logotherapie hat das, was Menschen wichtig ist, zentral mit den eigenen Werten zu tun. Um das eigene Herzensthema zu finden, müssen Menschen auf Spurensuche nach genau diesen Werten gehen, sagt Rettinger. Es herbeizusehnen reiche nicht aus. Auch sie begleitet die Menschen bei der Selbstreflexion: Was war dir immer schon wichtig und was hat dir immer schon wehgetan in dieser Welt? „Wir versuchen, die Werte eines Menschen herauszukitzeln“, sagt Rettinger. Und dann zu schauen, was sich davon im aktuellen Leben wiederfinde. Schließlich gelte es, die Werte in praktische Handhabbarkeit zu übersetzen. Sei jemanden Gerechtigkeit wichtig, könne er oder sie sich beruflich oder ehrenamtlich etwa für Menschen einsetzen, denen Ungerechtigkeit widerfahren ist. Wer die Natur liebe, könne einen Weg suchen, „um die Hände in die Erde stecken zu können“.
Sie erinnert sich an einen 59-jährigen Mann, der ein unbestimmtes Sehnen in sich fühlte. Gemeinsam kamen sie darauf, dass er bis zum Alter von 18 Jahren immer Tiere um sich hatte. Dann kam der Beruf und das Gefühl, keine Zeit mehr für ein Tier zu haben. Heute weiß er, dass ein Haustier für ihn kein Luxus ist, sondern in sein Leben gehört.
„Es macht krank, wenn wir unser Leben nicht leben“, ist Rettinger überzeugt. Der Gedanke, dass etwas, was uns am Herzen liegt, nicht in den Alltag passe, sei vielleicht vom Verstand her klug, aber nicht unbedingt weise.
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